Eine Frage der Solidarität

INTERVIEW Der Theologe und Sozialarbeiter Martin Staiger über gängige Rentenmythen und die Aussichten auf eine große Reform
Quelle: Heilbronner Stimme Nr. 234 vom 08.10.2016 von Redakteur Sascha Sprenger

Die gesetzliche Rentenversicherung steht am Scheideweg. Um das derzeitige Rentenniveau zu halten, sind Beitragserhöhungen sowie die Verlängerung der Lebensarbeitszeit im Gespräch. Rentenexperte Martin Staiger hält das für den falschen Weg.

In lhren Vorträgen reden sie oft davon, dass es gleich mehrere Rentenmythen gebe. Welche meinen Sie?
Staiger: Der erste Mythos ist, dass die Rente immer teurer wird. Wir geben derzeit rund neun Prozent des Bruttoinlandsproduktes für die gesetzliche Rente aus, 2003 waren es noch 10,5 Prozent. Auch die absoluten Zahlen sind rückläufig. Das heißt auch, wir geben für mehr Rentner weniger Mittel aus, was wiederum den Mythos widerlegt, dass es Rentnern heute besser gehe als früher. Dazu muss man auch sagen, dass die Rentenreformen des Jahres 2001/2002 erst zum Teil wirken, das heißt, die Situation wird sich noch weiter etwas zu Ungunsten der Rentner verändern.

Sehen Sie weitere Mythen?
Staiger: Es heißt, dass die Verrentung der Generation der Babyboomer um das Jahr 2030 die Katastrophe für die Rente sei. Das sehe ich nicht so, vor allem, da die Entwicklung nicht überraschend kommt. Die Zahl der über 65-Jährigen steigt seit Jahren kontinuierlich an, aber man hat darauf stets falsch reagiert. Ich sage, dass es uns demografisch recht gut geht. Hätten wir noch vor 20, 25 Jahren die Geburtenzahlen beispielsweise wie in den 1960er Jahren mit etwa zwei Kindern pro Frau gehabt, würde man diese Menschen auf dem Arbeitsmarkt heute vermutlich gar nicht unterkriegen. Sehen Sie sich Frankreich mit rund 2 Kindern pro Frau an, dort ist die Arbeitslosigkeit von jungen Erwachsenen auch deshalb so hoch, weil es viel mehr sind als bei uns.

Derzeit versucht Andrea Nahles die Bevölkerung auf steigende Rentenbeiträge sowie eine Verringerung der Lebensarbeitszeit einzustimmen. Haben wir nur diese beiden Möglichkeiten?
Staiger: Nein, es gibt natürlich noch andere Wege, aber an die traut sich bisher niemand heran. Will man die gesetzliche Rente wirklich retten, müsste man eine große Rentenreform angehen, aber es wird schwer sein, dafür eine Mehrheit zu finden. Dafür haben viele Lobbygruppen zu großen Einfluss.

Wie könnte eine Reform aussehen?
Staiger: Letztlich geht es darum, mehr Steuergelder in die Rentenversicherung umzuverteilen. Das lässt sich folgendermaßen rechtfertigen: Die Kombination aus niedriger Geburtenrate und immer weiter steigender Produktivität bringt langfristig die Nachfrage nach Arbeitskräften sowie das Angebot an Arbeit vermutlich nahezu ins Gleichgewicht. Dadurch wird der Staat an mehreren Stellen bei den Sozialausgaben entlastet Bei den Ausgaben für Kinder und Jugendliche sowie für Arbeitslose. Doch das alles entlastet nicht die Rentenkasse, sondern die Kasse des Finanzministers. Außerdem sollte man sich mehr darauf konzentrieren, dass breite Schultern bei der Steuererhebung mehr stemmen als die schmalen.

Wie meinen Sie das?
Staiger: Unternehmen, die mit wenig Personal hohe Gewinne erwirtschaften, sollten stärker an der Finanzierung der Renten beteiligt werden. Außerdem sollte man den demografischen Faktor aus der Rentenformel entfernen. Dieser bildet das Verhältnis von Arbeitnehmern und Rentnern ab und wird in absehbarer Zeit dafür sorgen, dass die Renten weiter von den Löhnen abgekoppelt werden. Dennoch sollte man ihn berechnen und die Differenz aus Steuermitteln begleichen

Warum das?
Staiger: Das ist eine Frage der Solidarität. Bislang werden nur die Rentnerinnen und Rentner dafür bestraft, dass sie weniger Kinder bekommen haben als ihre Eltern. Aber auch alle anderen Beamte, Selbstständige oder Unternehmer, die nicht in die Rentenkasse ein zahlen sind dafür mitverantwortlich.

Wird das Schweizer System – jeder zahlt einen gewissen Prozentsatz in die Rente ein, es gibt keine Beitragsbemessungsgrenze, dafür wird eine Höchstrente festgelegt – denkbar?
Staiger: Grundsätzlich ist das Schweizer Modell reizvoll, allerdings funktioniert es nur, wenn eine Höchstrente festgelegt wird. Sonst erwerben beispielsweise Spitzenverdiener Anwartschaften in fünf- oder sechsstelliger Höhe pro Monat, was für die Rentenkasse nicht zu verkraften wäre. Doch eine Höchstrente dürfte verfassungsrechtlich ein Problem werden, da die Rentenanwartschaften unter dem Eigentumsschutz des Grundgesetzes stehen.

Es heißt, die gesetzliche Rente sei nur mit einer großen Reform zu retten. Wie konnte es soweit kommen?
Staiger: In den vergangenen Jahrzehnten wurde zu sehr individualistisch gedacht. Also: Was muss der Einzelne tun, um ein gutes Auskommen zu haben? Stattdessen hätte man viel mehr gesamtgesellschaftlich denken müssen, aber so etwas wie Verteilungspolitik galt zu lange als Unwort. Dabei wird unsere Gesellschaft im Schnitt immer reicher und damit steigt auch der Verteilungsspielraum. Und wenn man nicht gesamtgesellschaftlich denkt, hat es ein Konstrukt wie die Rentenversicherung mit ihrem Solidarprinzip immer schwerer.

Haben Sie dafür ein Beispiel?
Staiger: Ein Beispiel wäre die Förderung kapitalgedeckter Altersvorsorge durch die Rentenreformen der 00er Jahre, durch die dem Fiskus und den Sozialkassen jedes Jahr viele Milliarden Euro entzogen und der Versicherungswirtschaft zugeleitet werden. Und über die Rentenformel drückt dieses Konstrukt die Renten aller. Das ist das genaue Gegenteil von Sozialpolitik, es ist Un-Sozialpolitik. Aber noch heute gibt kaum ein SPD-Politiker zu, dass das System der kapitalgedeckten Altersvorsorge und die Riester-Rente gescheitert sind, obwohl es nicht offensichtlicher sein könnte.

 

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Foto: Frankfurter Rundschau

 

Zur Person: Martin Staiger geboren 1967 in Stuttgart, studierte evangelische Theologie und Sozialarbeit an den Universitäten Tübingen, Bochum und Ludwigshafen. Derzeit arbeitet der Rentenexperte als Dozent an der evangelischen Hochschule Ludwigsburg und als Kolumnist für die Frankfurter Rundschau. Seine Beiträge werden regelmäßig in den Blättern für „deutsche und internationale Politik“ veröffentlicht.

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